Ein Kommentar von Dr. Anja Pielorz
Vor vier Wochen habe ich einen Kommentar geschrieben unter dem Titel „Was tun wir uns gerade an“. Sein Inhalt bezog sich auf die Folgen der Corona-Krise und in den elektronischen Medien habe ich – erwartungsgemäß – dafür verbale Prügel bezogen. Allerdings gab es auch persönliche Stimmen der Zustimmung am Telefon. Meine Meinung habe ich nicht geändert – im Gegenteil. Ich stelle mir heute immer noch, vielleicht mehr denn je, die Frage, warum Massen von Menschen den staatlich verordneten Entzug von Grundrechten ohne gesicherte Urteilsgrundlage hinnehmen. Bevor jetzt wieder der ein oder andere Schnappatmung bekommt, schiebe ich folgende Erklärung nach: Aus meiner Sicht neigen Menschen gerade in Krisenzeiten dazu, sich gern mit „starker Hand“ führen zu lassen. Wer selbst unsicher ist, begehrt wenig auf gegen Verordnungen, die ja zu seinem Schutz sein sollen. Er stellt sie nicht in Frage. Nun ist es allerdings so, dass wir in der Krisenzeit dieser Pandemie keine gesicherte Urteilsgrundlage haben KÖNNEN. Woher auch? Niemand kennt den Virus. Wir wissen bis heute nicht, woher es kommt. Wir wissen nicht, wie viele Menschen es in sich tragen. Wir kennen keine Zahl der Infizierten. Wir wissen nicht, ob und wie lange wir nach überwundener Infektion immun sind. Wir wissen nicht, wie viele Tote tatsächlich an dem Virus oder nicht doch an anderen Erkrankungen verstorben sind. Es gibt noch viel mehr, was wir nicht wissen. Um es deutlich zu sagen: Die politischen Entscheidungsträger wissen das auch nicht. Sie KÖNNEN es nicht wissen, aber sie müssen aus dem Nichtwissen heraus entscheiden. Das haben sie getan und tun es noch – und niemand weiß heute, welche Entscheidungen sich als richtig oder falsch herausstellen werden.
Was wir aber heute bereits wissen: der staatlich verordnete Entzug von Grundrechten hat stattgefunden und er wurde und wird mehrheitlich akzeptiert. Warum? In der Psychologie kennen wir das sogenannte „Stockholm-Syndrom“. Dahinter verbirgt sich eine selbst herbeigeführte Umprogrammierung des Denkens zum eigenen seelischen Selbstschutz. Das Gefühl von eigener Hilfslosigkeit und Ohnmacht – ich selbst kann ja doch nichts tun und der Staat weiß, was für mich gut ist – scheint für viele Menschen dermaßen unerträglich, dass man sich ohne Nachfrage mit den verordneten Vorgaben solidarisch erklärt. Ja mehr noch, man sucht in sich selbst Fehler, die zur gegenwärtigen Situation beigetragen haben und von daher eine persönliche Mitschuld begründen. Beliebt ist derzeit in diesem Zusammenhang die Globalisierung, die Schuld sein soll an fehlender Produktion vor Ort und überhaupt am weltweiten Reise- und Warenfieber. Wir wollen doch überall Zuhause sein, wir lieben die grenzenlosen Freiheiten – also tragen wir eine Mitschuld am Dilemma. Asche auf unser Haupt.
Wer in dieser Rhetorik der Angst Fragen stellt, ist nicht nur aufmüpfig oder unvernünftig – er wird gebrandmarkt als Bruder und Schwester Leichtfuß, als jemand, der Tote in Kauf nimmt (auch mir wurde vorgeworfen, ich wolle die Alten verrecken lassen). Es ist noch nicht lange her, da wurde der schwedische Sonderweg als Irrweg beschrieben mit einer Konsequenz fürchterlichen Ausmaßes. Mittlerweile sagt die Weltgesundheitsorganisation, man könne von dem schwedischen Modell lernen und selbst diese Aussage kann in wenigen Wochen schon wieder falsch sein. An dieser Stelle sei allerdings daran erinnert, dass in weit mehr als 80 Prozent aller bekannten Infektionen selbige mild verlaufen. Bei nicht bekannten Infektionen sollte dies mindestens ebenso der Fall sein, sonst würde man sich ja schlecht fühlen und einen Arzt aufsuchen.
Jetzt starren wir alle wie hypnotisierte Kaninchen auf den Mittwoch – DEN großen Tag der Entscheidungen, den Tag der zu erwartenden Lockerungen. Wir haben Begriffe wie Fallzahlen und Reproduktionszahlen gelernt – und wir haben die Zukunft schon aufgezeigt bekommen. Wenn wir nicht brav sind, wenn wir uns nicht an Vorgaben halten, wenn die Reproduktionszahl steigt – dann werden die Lockerungen zurückgenommen. Wir sind ja dann selbst schuld. Wenn in Zukunft nicht genügend Freiwillige die App downloaden, die Infektionsketten nachvollziehen soll, dann muss sie eben gesetzliche Pflicht werden – natürlich nur zum Schutz der Menschen. Der Vorschlag des Gesundheitsministers für einen Immunitätspass ist nichts anderes als eine Impfpflicht auf kaltem Wege.
Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, hat es in einem einzigen Satz gesagt: Sinn eines Verfassungsstaates ist in erster Linie der Schutz der Freiheit. Gesundheitsschutz rechtfertigt nicht jeden Freiheitseingriff.
Die Politik begreift eine Krise allerdings nicht selten als Chance, ihren Einfluss auf das Leben der Bürger (oder Untertanen) auszuweiten.
RuhrkanalNEWS-Redakteur Frank Strohdiek ist übrigens ganz anderer Meinung.
Interessanter Kommentar…
Unsere Regierung samt Ministerpräsidenten haben bis jetzt (!) aus meiner Sicht nach besten Wissen und Gewissen weitgehend richtig gehandelt. Wenn auch nicht immer im Einklang, was mit regionalen Unterschieden begründet werden kann. Es ist eben ein Ritt auf dem Messer. Angesichts der Kakophonie der unterschiedlichen Meinungen von Experten aller Art habe ich den größten Respekt vor unseren Politikern.
Die Schweden haben im Verhältnis zu den Einwohnerzahlen mehr als doppelt so viele Tote wie Finnland, Norwegen oder Deutschland zu verzeichnen. Tolles Vorbild! Die Zukunft wird es zeigen, welcher Weg erfolgreicher war.
Jetzt bringt es herzliches wenig die bisherigen Entscheidungen in Frage zu stellen, sondern besser optimistisch in die Zukunft zu blicken. Da ist der kommende Mittwoch sicherlich ein entscheidendes Datum. Ich erhoffe mir weitgehende Aufhebungen der Einschränkungen unter Berücksichtigung von einigen Regeln, wie Hygiene, Masken und Abstand. Jetzt sollte Eigenverantwortung Vorrang haben.
Herr Loewe, es ist immer wieder eine Freude!! Bei Eigenverantwortung bin ich ganz bei Ihnen. Was habe ich heute bei einem anderen Kommentator gelesen: schließlich sind wir nicht die Kinder von Frau Merkel…
Nun ja Frau Dr. Pielorz, die Übereinstimmung bezieht sich auf die Zukunft.
Nochmal Schweden und die Nachbarländer, es scheint gesicbert, je härter die Einschränkungen (Finnland, Norwegen), je weniger Tote. Grundsätzlich lassen sich allerdings diese Länder nur bedingt mit Deutschland vergleichen, Bevölkerungsdichte, Mentalität und abseits der Regionen, die Auslöser waren. Der schwedische Weg wäre meines Erachtens für Deutschland eine Katastrophe geworden.
Noch ein Vergleich, die Bürger in Italien, Frankreich und Spanien wurden erheblich härter in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Dagegen waren die deutschen Maßnahmen geradezu human. Ich will die Einschränkungen der Grundrechte nicht klein reden, aber doch ein wenig relativieren. Nochmal, die bisherigen Entscheidungen der Politiker waren aus meiner Sicht angemessen.
Allen muss klar sein, wir können die Einschränkungen nicht solange aufrechtzuerhalten, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht. JETZT ist der Zeitpunkt gekommen Schritt für Schritt das Leben halbwegs zu normalisieren.
Deshalb JETZT mit Eigenverantwortung der Bürger die nächsten Schritte wagen.
Herr Loewe, wenn wir uns im Hinblick auf die Zukunft einig sind, dann haben wir schon mehr erreicht wie die Ministerpräsidenten der Länder erreichen werden. Ist halt ein schwieriges und sehr emotionales Thema.
Danke Frau Dr. Pielorz für den Kommentar. Da bin ich ganz bei Ihnen.
Hallo Frau Bohr, vielen Dank. ist alles nicht einfach in diesen Zeiten. Und irgendwie hat ja auch jeder seine persönlichen Erfahrungen und seine eigene Geschichte. Wenn wir den gegenseitigen Respekt nicht verlieren, wäre das schon prima.
„Wenn wir den gegenseitigen Respekt nicht verlieren, wäre das schon prima.“
Stimmt Frau Dr. Pielorz, aber zum Beispiel die Herren Pass und Nörenberg haben heute in der Ratssitzung mal wieder das Gegenteil bewiesen.
Ich war in Hattingen heute nur zu Beginn der Sitzung für Fotos, danach war ich bei der Ratssitzung in Sprockhövel. Der Kollege Frank Strohdiek hat die Hattinger Sitzung verfolgt. Wahlkampf hin oder her – ich mag es nicht, wenn es zu persönlichen Angriffen führt. Man kann (und muss) in der Sache streiten – aber dies bitte sachlich. Ist aber nicht ganz einfach.