KOMMENTAR: POLIT-BEBEN

Der RuhrkanalNEWS-Kommentar (Grafik: RuhrkanalNEWS)

Hattingen- Für wenige Stunden war es bittere Realität: Es gab einen liberalen Ministerpräsidenten, der mit den Stimmen der AfD gewählt wurde. Diese Personalie gehört der Vergangenheit an. Thomas Kemmerich ist zurückgetreten, der Landtag in Thüringen soll aufgelöst werden. Morgen stellt FDP-Chef Christian Lindner die Vertrauensfrage zu seiner eigenen Person. Was für ein politisches Debakel!

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Mit nur einer Stimme Mehrheit aus CDU, FDP und AfD war Thomas Kemmerich im dritten Wahlgang gestern am 5. Februar an die Macht gekommen. Die FDP hatte mit fünf Prozent bei der letzten Landtagswahl um den Einzug in den Landtag bangen müssen, in dem sie vorher nicht vertreten war. Stärkste Fraktion wurde die Linke mit 31 Prozent, die CDU kam auf 21,7 Prozent. Die SPD erhielt 8,2 Prozent und die Grünen 5,2 Prozent. Die AfD kam auf 23,4 Prozent – ein deutliches Plus von 12,8 Prozent. Um es klar zu sagen: Aus der soziologischen Langzeitstudie „Thüringen Monitor“ (die letzte wurde Wochen nach der Landtagswahl veröffentlicht) wissen wir: 26 Prozent sehen im Nationalsozialismus auch gute Seiten. 56 Prozent sprechen von einer Überfremdung in Deutschland durch Ausländer. 21 Prozent sehen unter bestimmten Umständen eine Diktatur als bessere Staatsform für nationale Interessen an. 25 Prozent unterscheiden zwischen wertvollem und unwertem Leben. Das ist die politische Stimmung und der Hintergrund für Wahlergebnisse in diesem Bundesland.

Sofort nach der Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) wollte Ruhrkanal.NEWS mit lokalen Stellungnahmen online gehen. SPD, Linke Piraten und FDP – in der Reihenfolge – schickten gestern ihre Statements in die Redaktion. Der Tenor war einhellig: Entsetzen und Distanz von diesem Ergebnis. Erste Forderungen nach einem Rücktritt und Neuwahlen wurden laut. Die Grünen aus Hattingen legten heute mit einer Presseerklärung nach – mit dem gleichen Tenor. Ein schwarzer Tag für die Demokratie – die Partei, die mit der Farbe schwarz identifiziert wird und maßgeblich an dem Ergebnis beteiligt war, setzte heute in einem persönlichen Gespräch den mündlichen Schlussakkord. Überregional äußerte man sich gestern – bis hin zu Bundeskanzlerin Angela Merkel. Auch in den eigenen Reihen der CDU war das Entsetzen groß. Demonstrationen vor Parteizentralen der Liberalen an vielen Orten machten den Bürgerwillen deutlich.

Jetzt hat Thomas Kemmerich (FDP) die Brocken hingeworfen. Doch wie geht es weiter? Neuwahlen müssen beantragt werden. Der Antrag muss von mindestens einem Drittel der Thüringer Abgeordneten beschlossen werden. Diese Hürde könnten Linke, SPD und Grüne nehmen. Ist der Antrag erfolgreich, muss darüber abgestimmt werden, ob es tatsächlich Neuwahlen geben soll. Dafür ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig. Von den 90 Abgeordneten im Thüringer Landtag müssten mindestens 60 Abgeordnete dafür stimmen. SPD, Grüne und Linke haben zusammen 42 Stimmen. Fast alle 21 CDU-Abgeordneten müssten sich also dafür aussprechen. Die FDP hat 5, die AfD 22 Abgeordnete im Landtag.

Kommt es zu Neuwahlen, dürften die Liberalen den gerade geschafften knappen Einzug in das Landesparlament wohl wieder einbüßen. Ganz sicher ist dieses politische Beben kein Rückenwind für die Kommunalwahl der Liberalen in NRW. Und unabhängig aller Zahlenspiele und Fragen, wer warum und mit wem irgendetwas abgesprochen haben könnte – der Imageschaden für Politik und Demokratie ist gewaltig. Ein Zahlenspiel sei gestattet: Das Finanzministerium in Erfurt bestätigte den Medien die vollen Februar-Bezüge für Thomas Kemmerich sowie den Anspruch auf Übergangsgeld. Die Rede ist insgesamt von 93.000 Euro laut Thüringer Ministergesetz. Anspruch auf Ruhegeld besteht allerdings nicht. Bleibt zu hoffen, dass der Politiker dann klare Kante zeigt und das Geld spendet. Politische Jugendbildung würde sich anbieten.

Hattingen wirbt als Stadt die keinen Platz für Rassismus hat. Hattingen wirbt für Toleranz, Offenheit und Demokratie. Die uns aus Hattingen vorliegenden Stellungnahmen machen deutlich: Die Richtung stimmt! Und wie sagte schon Willy Brandt: „Die Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der Sittlichkeit.“

12 Kommentare zu "KOMMENTAR: POLIT-BEBEN"

  1. Bernd Loewe | 6. Februar 2020 um 21:21 |

    „Die Sprachlosigkeit der Bundespartei in den vergangenen Monaten hat dazu geführt, dass die CDU Thüringen in dieser schwierigen Zeit alleine gelassen wurde.“ sagte der CDU-Ministerpräsident Daniel Günther (Quelle Spiegel.de)

    Nicht nur die Sprachlosigkeit, sondern auch die Hilflosigkeit der CDU sich politisch den Rechten entgegen zu setzen spielt eine große Rolle. Annegret Kramp-Karrenbauer ist aus meiner Sicht eindeutig überfordert. Das wird noch spannend, Friedrich Merz versucht sich schon wieder warm zu laufen. Seine klare Sprache könnte Richtung weisend sein.

  2. Bernd Loewe | 10. Februar 2020 um 10:58 |

    Annegret Kramp-Karrenbauer hat die Konsequenzen gezogen, Parteivorsitzende und mögliche Kanzlerkandidatin ist Geschichte.

    Jetzt darf man gespannt sein, wie es weiter geht. Verhindert Merkel erneut Merz?

  3. Dr. Anja Pielorz | 10. Februar 2020 um 18:56 |

    Wir leben in politisch unruhigen Zeiten, in denen man fast stündlich eine Sache kommentieren könnte. So viel Zeit haben wir leider nicht. Was aber im Nachgang zum Thüringen-Desaster gesagt werden muss, ist dies: Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hat mit ihrem Verzicht auf das Erbe von Angela Merkel ihren persönlichen Schlussakkord angestimmt. Ein glückliches Händchen hat sie schon vorher nicht bewiesen: Man erinnere sich an die Maßregelung des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen im Sommer letzten Jahres, der gerade im Osten für volle Säle sorgte und eher ein Garant dafür war, CDU-Wähler an die Partei zu binden und sie nicht dem rechten Rand in die Arme zu treiben. Schon das war mehr als unglücklich – in Worten und Taten. Im Gegensatz zu Angela Merkel ging der Aufstieg von Annegret Kramp-Karrenbauer schnell – und ihr tiefer Fall hat auch nicht so lange gedauert. Der schnelle Aufstieg machte eines deutlich sichtbar: AKK war komplett überfordert. Dies gilt auch für die Situation in Thüringen. Wenn es Absprachen gab, sie hat sie nicht rechtzeitig ausgemerzt. Wer überfordert ist, redet nicht Klartext. Und wer nicht klar redet, der denkt in der Regel auch nicht klar.
    Thüringen hat – wieder einmal – gezeigt: Es gibt viele Menschen, die in ihrer Realität mit handfesten Problemen gesegnet sind. Sie wünschen sich, dass der Staat seine Hausaufgaben ordentlich erledigt. Ganz offensichtlich sieht eine große Mehrheit dieser Menschen in Bodo Ramelow nach wie vor einen Ministerpräsidenten, der diese Aufgabe erfüllen würde. Und es gibt eine politische Realität, die das mehrheitlich anders sieht und mit Klimmzügen und Geschacher immer noch versucht, dem Schrecken ohne Neuwahlen ein Ende zu setzen – übrigens auch ohne Bodo Ramelow auf den Thron des Ministerpräsidenten zu heben.
    Blickt man auf die aktuellen Umfragen, ist die CDU drauf und dran, der Sozialdemokratie auf ihrem Weg nach unten zu folgen. Von der FDP sprechen wir in diesem Zusammenhang gar nicht mehr. Das macht alles noch gefährlicher: denn immer mehr kleine Parteien mit niedrigen Prozenten müssten sich zu einer Regierung finden, wenn sie denn auf die Stimmen der Rechten verzichten will.

    In der großen Politik beschäftigen wir uns nun mit der Rückkehr der Männer – Merz, Söder, Spahn oder Laschet. Wobei die Unternehmer mit dem aufkeimenden Frühling im März heute schon einen Merz verbinden, der sich selbst als stabiles Hoch für Deutschland und quasi als Geschenk für das Volk sieht. In der kleinen Politik – Bürgerschaftswahlen in Hamburg in zwei Wochen, Kommunalwahlen in Bayern im März und im September in NRW – schürt Thüringen und sein politisches Nachbeben vor allem eines: Frust um Geschiebe und Geschacher und die Sehnsucht nach einem Politstil von Verantwortung und Moral. Die Moral von der Thüringschen Geschicht – Moral hat man oder nicht.

  4. Bernd Loewe | 11. Februar 2020 um 10:21 |

    „Im ARD-Brennpunkt trat Kramp-Karrenbauer Mutmaßungen entgegen, dass die Regierung von Kanzlerin Angela Merkel nach einer Festlegung auf einen Unions-Kanzlerkandidaten vorzeitig enden müsse.“ Quelle Tagesschau.de

    Da darf man gespannt sein, ob nochmal eine Trennung von Parteivorsitz und Kanzlerschaft, wenn auch nur vorübergehend, Sinn macht.

    Laschet oder Merz ist die spannende Frage?

  5. Dr. Anja Pielorz | 11. Februar 2020 um 17:25 |

    Hallo Herr Loewe, genau das ist die spannende Frage. Sie löst aber wohl auch nur ein Teil des Problems. Die Lage in Thüringen ist verfahren und die Lage der SPD und der CDU ist es auch. Und völlig ungelöst ist noch etwas anderes: Wie will man – inhaltlich und personell – umgehen mit der Tatsache, dass die AfD, sofern in Parlamenten vertreten, natürlich auch stimmberechtigt ist. Wenn jede Personalie mit den Stimmen der AfD mit einem Rücktritt endet, dürfte das auf Dauer schwierig werden. Gleiches gilt für inhaltliche Debatten. Wenn in Thüringen Bodo Ramelow antreten sollte und die AfD stimmt für ihn – darf er dann annehmen? Das ist doch eine Farce: Jeder weiß, dass die Afd inhaltlich mit Ramelow nicht konform geht. Wenn sie ihm aber aus taktischen Gründen die Stimmen gäbe, was dann?

  6. Bernd Loewe | 11. Februar 2020 um 22:19 |

    Ich denke schon Frau Pielorz, Bodo Ramelow darf annehmen, wenn die 42 Stimmen im dritten Wahlgang für eine Minderheitsregierung der drei Koalitionspartner erreicht werden. Dann ist es aus meiner Sicht egal, wer noch für ihn stimmt, er wäre ja auf jedem Fall gewählt werden. Anders als die Wahl Kemmerichs. Nicht schön, aber vertretbar.

  7. Dr. Anja Pielorz | 11. Februar 2020 um 22:42 |

    Die Linke will vor einer Wahl klare demokratische Mehrheiten. „Wir werben für eine deutliche Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten im ersten Wahlgang, mit Stimmen von CDU und FDP“, sagte Susanne Hennig-Wellsow. „Wir wollen die Reihen der Demokraten wieder schließen.“ Eine Enthaltung der CDU im dritten Wahlgang, wenn eine einfache Mehrheit genügt, reiche nicht. Die CDU hat aber klar gesagt, sie unterstützt Ramelow nicht, der ja in der Bevölkerung nach wie vor eine deutliche Mehrheit hat. Ramelow zu verhindern – um jeden Preis. Das scheint wohl für manche Politiker Vorrang vor allem anderen zu haben.

  8. Bernd Loewe | 12. Februar 2020 um 7:52 |

    Die Linke pokert hoch, denn nach den Wahlprognosen würden sie deutlich mehr Zustimmung erhalten und es würde eine Mehrheit zustande kommen. Da wird FDP (wäre raus) und CDU (deutliche Verluste) Neuwahlen sicherlich nicht zustimmen. Der Politkrimi ist noch nicht zu Ende, die CDU steht sich selbst im Wege. Es sei denn, die Thüringer gehen ihren eigenen Weg und springen über den Schatten der Bundes CDU.

  9. Dr. Anja Pielorz | 12. Februar 2020 um 11:10 |

    Hallo Herr Loewe, sehe ich für Thüringen auch so. Thüringen hat die politische Großwetterlage ordentlich durcheinander gewirbelt. Aber wir haben ja auch vor der Haustür einige Sturmböen. In Gevelsberg haben sich alle Oppositionsparteien zusammengefunden und einen Kandidaten aus Troisdorf per Stellenausschreibung als Gegenkandidat von Bürgermeister Claus Jacobi installiert. Es fand sich niemand aus den eigenen Reihen – blickt man auf die Prozentwerte von Claus Jacobi muss man sich nicht wundern. Für Sprockhövel kommt die SPD-Gegenkandidatin aus Hattingen. Auch hier fand sich niemand aus den eigenen Reihen. Und in Hattingen unterstützt die CDU den parteilosen Amtsinhaber, obwohl dieser in der „Jahrhundertentscheidung Kanal“ mit den Sozialdemokraten gestimmt hat, für die er eigentlich bei der letzten Wahl ja auch antreten wollte.Schauen wir mal, wie stürmisch es in den nächsten Monaten wird.

  10. Bernd Loewe | 2. März 2020 um 20:52 |

    Die AfD-Fraktion im Thüringer Landtag hat ihren Chef Björn Höcke () als Kandidaten für die Ministerpräsidentenwahl am Mittwoch nominiert. Damit will sie klar nach außen demonstrieren, wenn Ramelow mehr als 42 Stimmen bekommt, dass diese von der FDP (unwahrscheinlich) oder der CDU kommen. Die Zwickmühle der Thüringer CDU ist quasi unlösbar. Das Polittheater geht in die nächste Runde.

  11. Barteczko/Strohdiek | 3. März 2020 um 14:39 |

    Ein Theater für das sich CDU und FDP die Karten selbst gekauft haben. Sie dachten, sie sitzen im Publikum, jetzt stellen sie fest, es sind Bühnenkarten mit Scheinwerfer-Garantie. (fs)

  12. Bernd Loewe | 4. März 2020 um 23:32 |

    Mit einem gewissen Zickzack Kurs in seiner Strategie hat Ramelow die Wahl mit den 42 Stimmen seiner Koalition zum Ministerpräsidenten geschafft.

    Es gab Glückwünsche, Ramelow ging allerdings in Konfrontation mit Höcke und verweigerte ihm einen Händedruck.

    Bei seiner Antrittsrede machte Ramelow deutlich, warum. „Sie sind die Brandstifter in diesem Saal. Erst wenn die AfD der Demokratie keine Fallen mehr stellen werde, sondern sie verteidige, werde er auch Höcke die Hand geben.“

    Gut so Herr Ramelow! Dann mal gutes Regieren bis zu den angekündigten Neuwahlen in einem Jahr.

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