Hattingen – „In der DDR träumten viele schon als Jugendliche vom Altwerden – warum? Weil nur alte Menschen das Land verlassen durften.“
Dieser Satz steht am Anfang des Abends in der Evangelischen Johanneskirche und ist zugleich der Schlüssel für alles, was folgt: Es geht um Flucht. Aber nicht um Eritrea, Syrien, Afghanistan oder die Ukraine. An diesem Donnerstagabend geht es um Deutschland. Um die DDR. Um Menschen, die in ihrem eigenen Land eingesperrt waren – und die bereit waren, für die Freiheit ihr Leben zu riskieren.
Fünf Fluchten, die im Kopf zum Film werden
Viele Jüngere wissen heute gar nicht mehr, dass es einmal zwei deutsche Staaten gab – ein freies Land und eins, in dem Mauern, Zäune und Stacheldraht die Freiheit begrenzten. Dass es tausende gab, die „raus mussten“, weil sie die Enge, die Kontrolle, das Misstrauen nicht mehr ertragen konnten.
Genau davon erzählt die Konzertlesung „Ich musste raus – Wege aus der DDR“, zu der „Ein Kick für Hattingen“ am 4. Dezember in die Johanneskirche eingeladen hatte. Schauspieler Ludwig Blochberger liest fünf wahre Fluchtgeschichten, Schlagzeuger und Klangkünstler Stefan Weinzierl zeichnet dazu live die Tonspur – und im Kopf der Zuhörer entsteht ein Film, der an Spannung und Intensität kaum zu überbieten ist. Alfred Hitchcock hätte seine Freude daran gehabt.
Dabei ist die Inszenierung auf der Bühne fast banal unspektakulär: ein Hocker, ein Mikrofon, ein Mann mit einem iPad. Kein großes Bühnenbild, keine Lichtshow. Blochberger sitzt meist ruhig auf seinem Hocker, kaum Gestik, keine Theatertricks. Aber die Art, wie er seine Stimme einsetzt, macht den Raum eng, lässt Herzen schneller schlagen, holt die DDR für einen Abend zurück in die Gegenwart.
Wenn er von der Flucht in einem kleinen Paddelboot über die Ostsee erzählt, sitzen die Zuhörer mit in diesem Boot. Man sieht es in den Gesichtern: Die Konzentration, das Mitpaddeln, das Hoffen, dass die Wellen tragen und nicht verraten. Man spürt die Dunkelheit über dem Wasser – bis es plötzlich „Tag“ wird, Suchscheinwerfer die Nacht zerreißen und ein Küstenboot auftaucht.
Andere Geschichten führen in den Kofferraum eines Autos, in dem eine Frau stundenlang ohne Luft und ohne jede Garantie auf Rettung ausharrt. Oder in Züge, Grenzbahnhöfe und Übergänge über Ungarn und Österreich, an denen ein falscher Blick, ein missverständliches Wort das Ende aller Träume bedeuten kann. Blochberger wechselt zwischen den Figuren, lässt Stasi-Offiziere schneidend kalt klingen, Schuldirektoren autoritär und gebrochen wirkende Menschen leise, fast brüchig. Nichts daran wirkt aufgesetzt – es ist glaubhaft, dicht, nah.
Kein Klangteppich – ein akustischer Erzähler
Der zweite Mann auf der Bühne sorgt dafür, dass dieser Abend weit mehr ist als „nur“ eine Lesung. Stefan Weinzierl versteht sich nicht als Begleitmusiker, der einen netten Klangteppich legt. Er agiert eher wie ein Geräuschemacher beim Film – allerdings auf künstlerisch höchstem Niveau.
Vor ihm: ein Arsenal aus Schlagwerk, Marimba und Vibraphon, kleinen Perkussionsinstrumenten und elektronischen Effektgeräten. Manchmal ist da nur ein leiser, pulsierender Ton, der wie ein Herzschlag unter den Worten liegt. Dann wieder scharfe Akzente, Schläge, Reibegeräusche, metallische Schwingungen – als würden Gitter, Riegel, Riegelbolzen hörbar werden.
Die Klänge wirken oft wie Echos aus einer fast vergessenen Zeit, mal mysteriös schwebend, mal bedrückend eng. Wenn von Überwachung, Verhören oder Fluchtvorbereitungen die Rede ist, werden die Töne hektischer, dichter. Wenn ein Tunnel endlich erreicht ist, ein Grenzzaun überwunden, öffnet sich die Klangwelt – für Sekunden lang scheint Luft in den Raum zu strömen. Sprache und Klang greifen ineinander, ohne sich gegenseitig zu übertönen.
So entsteht eine Form von „Hörkino“, die das Publikum nicht einfach konsumiert, sondern körperlich erlebt. Man sieht, wie Menschen auf den Stühlen unruhig werden, sich anlehnen, nach vorne rutschen. Einige schließen die Augen, um das Gehörte noch näher an sich heranzulassen.
Fotostrecke Konzertlesung © ruhrkanalNEWS (Fotos: Holger Grosz)
DDR-Erfahrungen treffen auf heutige Fluchtgeschichten
Die Geschichten, die an diesem Abend erzählt werden, sind gerade einmal etwas mehr als 35 Jahre alt. Und doch wirken sie für viele schon wie ferne Vergangenheit. Umso stärker ist der Moment, in dem klar wird: Flucht ist kein DDR-Kapitel, das mit der Wiedervereinigung zu Ende geschrieben wurde.
Wer heute aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland kommt, wer aus Syrien, Afghanistan oder der Ukraine fliehen musste, findet in diesen innerdeutschen Fluchtgeschichten erschreckend viele Parallelen: die Angst vor Entdeckung, der Abschied von Familie und Freunden, der Verlust von Heimat, die ungewisse Zukunft in einem neuen Land.
Der Abend in der Johanneskirche schlägt diesen Bogen ganz ohne erhobenen Zeigefinger. Gerade weil die Geschichten so konkret, so persönlich sind, öffnen sie automatisch den Blick für das, was Menschen heute weltweit zur Flucht zwingt.
Ein Schauspieler mit eigener DDR-Biografie
Dass gerade Ludwig Blochberger diese Texte liest, ist kein Zufall. Er wurde 1982 in Ost-Berlin geboren. Seine Mutter Gitta arbeitete als Puppenspielerin, sein Vater Lutz als Schauspieler – beide mussten in der DDR mit einem System leben, das Kunst und Denken kontrollieren wollte. Eine einzige unbedachte Bemerkung in der Öffentlichkeit reichte damals aus, um Vater und Sohn bei der Staatssicherheit vorstellig werden zu lassen.
Nach dem Mauerfall zog die Familie nach Wien, wo Blochberger als Wiener Sängerknabe erste Bühnenerfahrung sammelte. Später studierte er Schauspiel an der renommierten Hochschule „Ernst Busch“ in Berlin, stand bei der Ruhrtriennale in Bochum und am Münchner Volkstheater auf der Bühne und wirkte in Kino- und TV-Produktionen mit – unter anderem im Oscar-prämierten Film „Das Leben der Anderen“. Ein Film, der sich ebenfalls intensiv mit dem Überwachungsapparat der DDR auseinandersetzt.
Dem Fernsehpublikum ist er vor allem aus Formaten wie „Der Alte“, „Tatort“ oder „Kommissar Dupin“ bekannt. Seine Erfahrung als Film- und Theaterschauspieler merkt man an diesem Abend jeder Silbe an – und doch steht nie er im Mittelpunkt, sondern die Menschen, deren Wege aus der DDR er erzählt.
Klangwelten ohne Schublade
Stefan Weinzierl wiederum denkt seit jeher „über Grenzen hinweg“ – geografisch, musikalisch und stilistisch. Als klassisch ausgebildeter Schlagzeuger mit Masterabschluss in Hamburg bewegt er sich zwischen Konzertsaal, Theaterbühne und Studio. Seine Produktionen führten ihn unter anderem zu Festivals wie dem Schleswig-Holstein Musik Festival, in die Elbphilharmonie, zu den Ruhrfestspielen und an Bühnen im In- und Ausland.
Mit seinem vielseitigen Instrumentarium entwickelt er Klangwelten, die sich bewusst keiner Schublade zuordnen lassen. Für Bühnenwerke, Hörbücher, Radioproduktionen und Dokumentationen komponiert und produziert er in seinem Hamburger Tonstudio Musik, die Geschichten trägt, statt sich in den Vordergrund zu drängen. Diese Haltung ist an diesem Abend in Hattingen deutlich zu spüren.
Ein Abend, der nachwirkt – und ein Dank an die, die ihn möglich machen
Organisiert wurde die Konzertlesung von Martina Przygodda, die mit „Ein Kick für Hattingen“ immer wieder besondere Kulturveranstaltungen in die Stadt holt. Dass ein so hochkarätiges Programm in der Johanneskirche ohne Eintritt besucht werden konnte, lag an einer ganzen Reihe von Unterstützern: Sparkasse Hattingen, AVU, Stadtwerke Hattingen und die Stadt Hattingen machten den Abend gemeinsam möglich.
Für die Besucher war das ein Geschenk, das man nicht in Geld aufwiegen kann: gut anderthalb Stunden, in denen die DDR keine Zahl im Geschichtsbuch war, sondern eine sehr reale, sehr enge und bedrohliche Welt. Ein Abend, der unter die Haut ging, der nachwirkt – und der deutlich machte, wie wichtig es ist, diese Geschichten zu erzählen, bevor sie endgültig verblassen.
Man darf gespannt sein, was Martina Przygodda und „Ein Kick für Hattingen“ im nächsten Jahr auf die Bühne bringen. Nach diesem Abend in der Johanneskirche ist die Messlatte jedenfalls ziemlich hoch gelegt.






























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