Ein Bombenfund – nüchtern betrachtet ist das ein Polizeibericht, ein Evakuierungsplan, ein paar Zahlen und am Ende die Meldung „erfolgreich entschärft“. Aber was wirklich passiert, spielt sich zwischen den Zeilen ab. In Gesichtern, in Nebensätzen, in Gesten, die keiner aufschreibt – und doch sagen sie mehr über eine Stadt und ihre Menschen als jede Pressemitteilung.
Die kleine Welt, die nicht verlassen werden will
Da ist die alte Dame im Pflegeheim, die ihre Tür nicht hinter sich schließen will. Für Außenstehende mag das störrisch wirken – „Sie muss da jetzt raus, Sicherheit geht vor.“ Aber wenn das eigene Leben sich auf vier Wände reduziert hat, wenn der Sessel, die Kommode, die vertrauten Stimmen im Flur die Welt bedeuten, dann ist ein Auszug ins Ungewisse eben nicht „nur mal kurz“. Für sie hieß es: Das Vertraute hinter sich lassen, ohne zu wissen, was kommt. Wer nie in dieser Situation war, unterschätzt, wie groß diese Angst ist.
Ein Spruch, der alles leichter macht
Und gleichzeitig sitzt im selben Haus ein rüstiger Herr, der lachend ruft: „Endlich mal was los in der Bude!“ Es ist dieser trockene Humor, der die Schwere aus dem Raum nimmt. Dieselbe Situation, zwei völlig verschiedene Reaktionen – beide menschlich, beide nachvollziehbar.
Pflegekräfte, die mehr tun als organisieren
Dass das Ganze nicht in blankes Chaos abdriftete, ist den Pflegekräften zu verdanken. Sie haben nicht nur Transportlisten abgearbeitet, sie haben darauf geachtet, dass jeder seinen Rollator hinterhergeliefert bekommt, dass niemand ohne Ansprache in einen Bus gesetzt wird. Da wurde mitgedacht: Begleiter fuhren in einigen Fahrzeugen mit, einfach, um ihre Bewohner nicht allein zu lassen. Das war keine militärische Verlegung von A nach B – das war eine kleine Reise, so behutsam wie möglich gestaltet.
Zwischendurch tauchte auch Margret Melsa auf, Ehrenamtliche im Pflegeheim. Sie war sofort da, bereit zu helfen, wie sie es seit Jahren tut. Doch diesmal durfte sie wieder gehen – nicht aus Desinteresse, sondern weil genügend Personal da war und jede zusätzliche Veränderung Unruhe hätte bedeutet. Auch das ist Fürsorge: zu wissen, wann weniger mehr ist.
Margret Melsa, ein bekanntes Gesicht im Ehrenamt © RuhrkanalNEWS Foto Holger Grosz

Feuerwehralltag mit Blick über den Tellerrand
Ein paar Straßen weiter, bei der Einsatzleitung der Feuerwehr, herrschte konzentrierte Ruhe. Noch war nichts passiert, und doch waren alle im Modus: Was, wenn es doch schiefgeht? Da ging es um scheinbar banale Fragen: „Können wir die Toiletten vom LWL nutzen?“ – „Reicht der abgesperrte Bereich auf dem Parkplatz?“ – „Die Rettungswagen müssen spätestens um 16 Uhr zum Zeltfestival.“ Wer glaubt, es ginge bei so einem Einsatz nur um Blaulicht und Helme, irrt. Es geht um hundert kleine Bausteine, die am Ende das große Ganze tragen.
Das Holschentor als Zuflucht
Währenddessen liefen rund 700 Menschen in Gedanken und Taschen durch ihre Evakuierung. Das Holschentor wurde zum Anlaufpunkt. Von „vielleicht kommt niemand“ bis „es platzt alles aus den Nähten“ war alles denkbar. Am Ende war es ruhig.
Im Bürgercafé saßen Friedhelm Kirschbaum und Harry Moog, zwei ältere Herren, Kaltgetränke in der Hand. Eine freundliche Frau bot etwas zu essen an. Friedhelm, der als Kind in Dortmund die Bombennächte erlebt hatte. Harry, aus dem Sauerland, ohne diese Erfahrung. Zwei Lebensgeschichten, die sich an diesem Nachmittag kreuzten. Friedhelm wollte ursprünglich zu Fuß losziehen, bis eine Nachbarin kurzerhand ihn und Harry ins Auto packte, ins Holschentor fuhr, danach noch ihren Mann und Hund in Sicherheit brachte. Solche unspektakulären Gesten sind es, die alles möglich machen.
Harry Moog (links) und Friedhelm Kirschbaum (rechts) waren die ersten kurze Zeit später waren alle im Holschentor angekommen. © RuhrkanalNEWS Fotos: Holger Grosz


Spontane Gastfreundschaft
Und dann Iris Borgböhmer, die gute Seele vom Schachklub Welper, die eigentlich ihr Sommerfest feiern wollte. Anstatt den Tag abzublasen, hieß es: „Dann bewirten wir eben auch die, die heute unfreiwillig hier sind.“ Am Grill legten Wolfgang Linde und Joachim Conrad ein paar Würstchen mehr auf. Kein großes Spektakel, sondern das Selbstverständliche: teilen, was da ist.
Zwischen all den Fremden im Holschentor wurden neue Bekanntschaften geschlossen. Manch einer ging am Abend mit Telefonnummern in der Tasche nach Hause, die er morgens noch nicht kannte.
Iris Borgböhmer, Wolfgang Linde und Joachim Conrad vom Schachclub Welper © RuhrkanalNEWS Foto: Holger Grosz

Zwischen Krankheit und Engagement
Auch Andreas Gehrke kam vorbei. Sichtlich krank, aber da. Weil er helfen wollte. Weil es für ihn selbstverständlich war, trotz eigener Schwäche für andere einzustehen. Solche Momente lassen niemanden kalt.
Suchen, Finden, Aufatmen
Mitten im Gewimmel tauchte eine Frau auf, verzweifelt auf der Suche nach ihrer Mutter aus dem Pflegeheim. Die Nina-Warn-App hatte sie ins Holschentor geführt. Doch die Mutter war in einer Turnhalle in Niederwenigern. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Information sie erreichte. Erst dann wich die Anspannung aus ihrem Gesicht. Solche Momente zeigen, wie wichtig nicht nur Organisation, sondern auch Kommunikation ist.
Am Ende: eine Stadt, die geübt hat
Die Bombe selbst war für die Fachleute keine große Herausforderung. Für die Stadt aber war dieser Tag eine Übung in Zusammenhalt. Und das Ergebnis? Beeindruckend. Das Gebiet wurde schneller evakuiert als erwartet. Menschen halfen spontan, egal ob Nachbarin, Vereinsmitglied, Pflegekraft oder Feuerwehrmann.
Und das Wichtigste: Es blieb nicht beim reinen Abarbeiten. Es war nicht nur Logistik, es war Menschlichkeit. Da wurde gelacht, getröstet, geteilt.
Vielleicht ist das die Botschaft dieses Tages: Technik entschärft Bomben. Aber Menschen entschärfen Situationen.
Danke an alle, die genau das möglich gemacht haben.






























Das ist ein wirklich berührender Beitrag, so viel Menschlichkeit in einer Situation, die zunächst nur nach einem „Einsatzplan“ klingt. Gerade die kleinen Szenen machen deutlich, wie viel Empathie, Fürsorge und Zusammenhalt in unserer Hattinger Gesellschaft steckt. Auch von mir ein großes Dankeschön an alle Helferinnen und Helfer, die mit Herz und Verstand dafür sorgten, dass Betroffene der „Umsiedlung“ sich nicht allein gelassen fühlten.
Eine sehr schöne und vor allem treffende Situationsbeschreibung von Holger Grosz. Auch ich steckte stundenlang wegen der Evakuierung in der Brandtstraße fest, erlebte mit meiner 98jährigen Mutter die Umsicht und Fürsorge des dortigen Personals mit. Eine nicht alltägliche Herausforderung, die mustergültig gemeistert wurde. Vielen Dank dafür!