WENN PLÖTZLICH ALLES ANDERS IST…

Ein Kommentar von Frank Schacht zum nächtlichen Verkehrsunfall auf der Sprockhöveler Straße.

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Ein Unfall und die eigene Betroffenheit

Es ist 00:53 Uhr am Sonntag morgen, als der digitale Meldeempfänger einen Einsatz signalisiert. Der Text im Display lässt nichts Gutes erahnen: „VU-Klemm, mehrere Verletzte, 2 PKW frontal, Personen noch im Fahrzeug.“

Raus aus dem Bett und rein in die Einsatzklamotten. Klingt nach einem typischen Party- oder Discounfall. Da klingelt das Handy meiner Frau. Ein Freund meiner Söhne ruft an, stammelt etwas von Unfall. Und von einer Sekunde auf die nächste ist nichts mehr wie sonst. Aus einem dumpfen Bauchgefühl wird bittere Gewissheit. Seit Jahrzehnten habe ich vor nichts mehr Angst. Gott, lass mich niemals meine eigene Familie retten müssen. Und jetzt: meine beiden Jungs waren auf einer Geburtstagsfeier. Die Straße passt. Die Zeit passt. Es wirkt so surreal und ist doch so unbarmherzige Realität. Ich starte meinen Kommandowagen und fahre los. Nicht erst zum Feuerwehrgerätehaus, nein, direkt zur Einsatzstelle. Unvernünftig? Ja vielleicht. Aber hey, es geht um meine beiden Söhne. Das Blaulicht erhellt die Dunkelheit, das Martinshorn durchbricht die Stille. Ich kann meine Gedanken nur schwer unter Kontrolle halten. Ich erinnere mich an einen schrecklichen Verkehrsunfall, bei dem der Sohn eines guten Freundes und ebenfalls Feuerwehrmannes ums Leben kam. Auch er fuhr, so wie ich gerade, zur Unfallstelle.

Ich gehöre zu den ersten an der Unfallstelle. Einsatzjacke an, Helm auf. Los zu den verunfallten PKW, die frontal aufeinander gefahren sind. Ein Blick in das erste Fahrzeug. Die Fahrerin wird bereits professionell versorgt. Sonst niemand im Fahrzeug. Ich laufe um das andere Fahrzeug herum. Die vielen Menschen, Ersthelfer und zunehmend eintreffende Retter, wirken auf einen Laien wie ein unkoordiniertes Chaos. Tatsächlich aber erkenne ich die Professionalität und Souveränität der Handelnden. Ich sehe in einige mir bekannte und vertraute Gesichter. Feuerwehr und Rettungsdienst ist eine große Familie. Und da sehe ich ihn auf dem Boden liegen. Seine Freundin kniet neben ihm, eine Rettungswagenbesatzung beginnt mit ersten Maßnahmen. Mein Sohn. Kurz stockt mir der Atem, dann greifen wieder eingeübte Routinen. Schnell steht fest: 6 Betroffene. Mein Sohn war mit drei weiteren jungen Menschen in einem der beteiligten Unfallfahrzeuge. Ihn scheint es von den vieren am schlimmsten erwischt zu haben. Mein anderer Sohn war noch auf der Party. Eine Sorge weniger.
Der eintreffende Kommandodienst der Feuerwehr Hattingen macht das einzig Richtige und zieht mich aus dem Einsatz. Tatsächlich habe ich dort nichts verloren. Ruhig, sachlich, energisch platziert er mich außerhalb des Sichtbereiches der Patientenversorgung an einer Leitplanke und stellt mir einen Wachhund (er nannte es Betreuer ) an die Seite.
Und da stehe ich nun. Umgeben von einem Meer an zuckenden Blaulichtern. Völlig hilflos und zum Abwarten verdammt. Unzählige Male habe ich das Gleiche mit anderen Menschen gemacht. Es wirkt nicht real, jetzt auf der anderen Seite zu stehen. Mittlerweile dürften es über 70 Menschen sein, die sich um die Unfallopfer kümmern. 6 Rettungswagen, 4 Notarzteinsatzfahrzeuge, Leitender Notarzt und Organisatorischer Leiter Rettungsdienst, 3 Züge Feuerwehr zur technischen Rettung, Polizei.

Wie dankbar dürfen wir sein, auf ein dermaßen leistungsfähiges und professionelles Hilfeleistungssystem zurückgreifen zu können.

Die Verletzten werden auf verschiedene Kliniken verteilt. Unseren Sohn verschlägt es notarztbegleitet in eine Unfallklinik in Wuppertal. Auch hier: professionelles Handeln und trotzdem Empathie für uns und unseren Jungen. Den Rest der Nacht verbringen wir in der Notaufnahme und auf der Intensivstation. Es scheint nochmal weitestgehend glimpflich abgegangen zu sein. Für unseren Jungen ebenso wie für die anderen Unfallbeteiligten. Bei aller Tragik: da waren eine Menge Schutzengel im Spiel.
Was bleibt als Resümee:

– Kein Einsatz darf für uns Routine sein. Immer geht es um Menschen und Schicksale. Nie in 38 Jahren Feuerwehr und Rettungsdienst war mir das bewusster als heute Nacht.
– Wir können uns auf unser Hilfeleistungssystem verlassen. Egal in welcher Uniform: es sind großartige Menschen, die Dienst am Nächsten leisten.
– Eine einzige Sekunde kann unser Leben dauerhaft verändern. Wir sollten uns dessen jederzeit in all unserem Alltagswahnsinn bewusst sein.
– Es ist mal wieder gut gegangen. Verlassen wir uns aber besser nicht darauf.

„Lasst uns mutig sein. Dann ist mir um die Zukunft nicht bange“ (Frank Walter Steinmeier).

Den Unfallopfern wünsche ich von Herzen baldige Genesung. Ein großes Dankeschön an all die Ersthelfer und Einsatzkräfte.

Frank Schacht